Liebe Home-Office-Worker, ich habe da was für Sie.

Aus aktuellem Anlass und aus tiefem, ehrlichen Mitgefühl für all die neuen, coronakrisenbedingten Home-Office-Worker, die sich in freiwilliger oder auch unfreiwilliger Quarantäne befinden, womöglich umgeben von Familienmitgliedern, Haustieren oder WG-Bewohnern, whatever:

Seien Sie sich sicher, dass ich Sie verstehe!

Und ja, diese Kurzgeschichte basiert auf tatsächlich stattgefundenen Ereignissen, vielleicht wurde an zwei oder drei Stellen ein wenig zugespitzt.

Text und Bilder (sagen Sie nichts, ich weiß, dass ich nicht zeichnen kann) wurden bereits vor Jahren als Printversion beim jmb-Verlag in Hannover veröffentlicht. Vielen lieben Dank an dieser Stelle noch einmal an Jens Bolm, dass er mich damals kontaktiert hat, weil ihm die Geschichte so gut gefiel.

Die kleine, einmalige Auflage ist nur noch im gut sortierten Gebrauchtwarenonlinehandel zu finden und vielleicht bei mir zu Hause in irgendeinem Schrank.

Eins noch: Bleiben Sie bitte gesund!

 

TAGE IM HOME-OFFICE

Eine Kurzgeschichte von Heidi Hensges

Haben Sie jemals den Wunsch verspürt, von zu Hause aus zu arbeiten? Weil es so praktisch ist? Da geht es Ihnen wie mir. Ich habe auch einmal den Wunsch verspürt, von zu Hause aus zu arbeiten. Besser gesagt: Im Grunde hatte ich keine andere Wahl. Als mein Lebensgefährte (der Einfachheit halber nachfolgend „L.“ genannt) mich endgültig in ein Straßendorf am Niederrhein nahe der niederländischen Grenze entführen wollte, stellte sich nämlich ein Problem: mein Fulltime-Job in einer kleinen Mönchengladbacher Werbe- und Onlinemarketingagentur. Mit fünfundvierzig bis fünfzig Wochenstunden.

Das wiederum bedeutete, dass es nach meinem Umzug von der Stadt aufs Land exakt drei Möglichkeiten gab: Kündigung, Home-Office oder ich fuhr täglich mit Bus und Bummelzug von Heinsberg nach Mönchengladbach und abends wieder zurück, was theoretisch natürlich geht. In meinem Falle wäre nur am Ende des Tages keine Zeit mehr übrig geblieben und am Ende des Monats kaum noch Geld. Bahnfahrkarten gibt es nicht gratis, mein Gehalt war eher bescheiden und wir verfügten nicht über zwei Autos. Was aber auch nichts genützt hätte, da ich gar nicht Auto fahre. Ich bin eine Nichtautofahrerin. Ergo fiel die Entscheidung auf das Home-Office.

„Chef, wir müssen reden“, sagte ich also mutig zu meinem Chef. Drei Tage später redeten wir, mein Chef und ich. Darüber, was ihn, uns, die Agentur und den Rest der Welt erwartete. Er murmelte irgendwas von gezogener Arschkarte. Er sagte, dass er nie, wirklich niemals jemanden nur von zu Hause aus arbeiten lassen wollte. Zu seiner Ehrenrettung muss ich sagen, dass mein Chef ein toller Mensch war. Ob er das heute noch ist, weiß ich nicht, da er nicht mehr mein Chef ist, sondern mein Ex-Chef. Mein Ex-Chef hatte auch eine tolle Ehefrau, die quasi meine Chefin war und nun meine Ex-Chefin ist.

Zu dritt fanden wir schließlich eine prima Lösung für unser aller Problem: alternierende Telearbeit. Was für Ungeübte kryptisch klingt, ist im Grunde ganz einfach: Man arbeitet größtenteils von zu Hause aus und ist ungefähr einen Tag pro Woche in der Firma.

Also kündigte ich meine sehr gemütliche, sehr schön gelegene, sehr helle und sehr ruhige Single-Wohnung in Mönchengladbach und zog inklusive meiner beiden Wellensittiche Tilly und Bibo etappenweise in ein altes, verwinkeltes, einfachverglastes, dunkles, sanierungsbedürftiges und direkt an einer Durchfahrtstraße gelegenes Einfamilienhaus zu L. und seiner damals siebenjährigen Tochter.

Nach akribischer Planung unter Zuhilfenahme maßstabgerechter Papierschnipsel richteten wir das Home-Office in einem zugigen Durchgangszimmer zwischen Flur und Schlafzimmer ein. Ich schaffte mir noch ein Faxgerät und, sozusagen als Frischluft- und Bewegungsmotivator, eine kleine zweijährige Promenadenmischung namens Daisy an. Wenn mein Chef nicht in seinem Büro war, liefen die Anrufe per Rufumleitung bei mir auf. Es konnte losgehen. An einem Montag im Februar 2004.

Ich hatte ja keine Ahnung. Lesen Sie mein Protokoll.

 

Tag 1. Montag.

Ich sitze pünktlich um 9 Uhr am Computer und beginne mit dem grafischen Layout für eine Internetseite. Mein Chef ist nicht online. Mein einziger Kollege, ein 30-jähriger Praktikant, auch nicht. Macht nichts, ich brauche niemanden und freue mich über ein komplett neues Arbeitsgefühl voller wilder Freiheits- und Selbstbestimmungsfantasien.

Um 10 Uhr ruft meine Chefin an und fragt mich, wie sich das so anfühlt im eigenen Home-Office. „Super!“, strahle ich breit durch den Hörer und gehe zugunsten der akustischen Qualität in den Flur, weil draußen der Müllwagen unterwegs ist. Wir bequatschen ein bisschen was Geschäftliches und ich arbeite fröhlich weiter.

Um 12.50 Uhr ist ein erster Layoutentwurf fertig, das läuft ja prima! Ich lade die Dateien auf den Agenturserver hoch, will Mittagspause machen und eine Instant-Chinasuppe löffeln, als das Telefon klingelt. Mein Chef muss plötzlich zu einem Auswärtstermin und aktiviert die Rufumleitung. Ich lasse die Suppe Suppe sein und flitze Gassi mit dem Hund.

Um 13.30 Uhr scripte ich etwas furchtbar Kompliziertes in PHP. Das Telefon klingelt wieder. Meine beste Freundin, die in der gleichen Straße einige Häuser weiter rechts wohnt, ist dran. Ihr ist langweilig und sie will in zehn Minuten kurz auf einen Kaffee vorbeikommen. Ich sage dummerweise zu.

Um 14 Uhr klingelt es an der Haustür, als ich wieder vom Flur aus (die Kühe gegenüber üben gerade Muhen) mit einem ziemlich wichtigen Kunden telefoniere, der sich zum Glück nicht am Geschnatter der Wellensittiche stört. Der Paketbote wuchtet ungefragt ein 15-Kilo-Paket Katzenfutter für Nachbarn von irgendwo gegenüber in unseren Hausflur, während ich das Gespräch unterbreche und nach meiner Freundin Ausschau halte. Sie ist noch nicht in Sicht. Ich scripte weiter, schwierig, schwierig.

Um 15 Uhr kommt meine Freundin samt Kind und Kuchen und bleibt eine ganze Stunde lang. Sie findet es total toll, dass ich jetzt immer zu Hause bin, sagt sie. Da könne man ja öfter zusammen Kaffee trinken. Mein Script ist noch nicht fertig.

Um 16.30 Uhr stelle ich fest, dass ich dummes Zeug gescriptet habe. Bis zum Feierabend sind es noch neunzig Minuten.

Um 16.50 Uhr kommen L. und seine Tochter nach Hause. Ich telefoniere mal wieder, in diesem Fall wegen eines lärmenden Milchlasters vom Kinderzimmer aus. Großes Hallo überall. Der Onlinemarketingmann am anderen Ende der Leitung fragt irritiert, ob wir vielleicht besser später weiterreden sollen. Ich sage ihm, dass ich in zehn Minuten zurückrufe, komme aber erst nach fünfundzwanzig Minuten dazu.

Pünktlich um 18 Uhr springe ich ohne Umwege direkt aus dem Schreibtischstuhl in die Küche an den Herd und koche Spaghetti mit Tomatensoße. Mittendrin ruft mein Chef an. Er fragt, wann ich mit dem Script fertig bin und teilt mir mit, dass er morgen Vormittag nicht in der Agentur, sondern bei einem Kunden in Düsseldorf ist. Die Spaghetti sind zu weich geworden.

Um 19.30 Uhr setze ich mich müde wieder ins Büro und quäle mich noch eine Stunde lang durch unerklärliche PHP-Fehlermeldungen. Die Stunde, in der ich mit meiner Freundin gemütlich Kaffee getrunken habe. Danach bügele ich Wäsche von drei Personen, wasche ab, räume die Küche auf und schwanke irgendwann ins Schlafzimmer.

 

Tag 2. Dienstag.

Um 7.30 Uhr gehe ich mit dem Hund raus, dusche anschließend, entsorge die Frühstücksreste von L. und seiner Tochter, wische Margarine, Honig und Leberwurst von der Arbeitsplatte, fege Körnerbrotkörner, Wurstzipfel und Käsereste vom Fußboden, stelle die Waschmaschine an, räume den Abwasch vom Abend weg, bringe den Müll raus, trinke Kaffee und esse Müsli. Stelle fest, dass ich früher aufstehen sollte.

Um 9 Uhr rufe ich Emails ab, logge mich in unser Auftragssystem ein, schreibe was Neues rein und drucke was Neues aus. Das Script muss am Mittag unbedingt fertig sein. Ich finde endlich den Fehler, als es an der Haustür klingelt. Hurra, der Schornsteinfeger ist da! So viel Ruß im Flur, welch ein Glück! Und im Esszimmer auch! Nach zwanzig Minuten geht er wieder. Ich wische erst mal. „Kölsche Wisch“, wie man hier sagt.

In der Zwischenzeit hat L. eine Email geschickt, Priorität „hoch“. Er hat ganz fürchterliche Zahnschmerzen und möchte, dass ich für ihn bei seinem Zahnarzt anrufe, weil er mitten in der Arbeit sitzt und nicht telefonieren kann. Ich sitze auch mitten in der Arbeit, rufe aber trotzdem bei seinem Zahnarzt an. Mir fehlt inzwischen fast eine Dreiviertelstunde Arbeitszeit und das Script ist – genau – immer noch nicht fertig.

Um 11 Uhr ruft unser Praktikant an, weil er in der Agentur dringend erforderliche Unterlagen sucht und nirgends findet. Ich lotse ihn zehn Minuten lang zur richtigen Ablage in der richtigen Schublade im richtigen Schrank.

Um 11.50 Uhr läuft das Script einwandfrei. Ich jubiliere und gönne mir meine Mittagspause früher und eine Viertelstunde länger.

Um 13.20 Uhr schickt mir mein Chef einen neuen Auftrag. Ein Logo für den Düsseldorfer Kunden. Eilig, eilig, steht dabei. Ich fange an, darüber nachzudenken.

Um 14 Uhr ruft die Nachmittagsbetreuung an. Das Kind hat Bauchweh, weint und will nach Hause. Ich rufe L. an, damit er hinfährt. Der sitzt aber mitten in der Arbeit und kann nicht weg. Ich kann auch nicht weg und schicke ein Taxi zur Nachmittagsbetreuung, rufe bei selbiger wieder an, koche Kamillentee, hole für den Abend eine Literbox mit selbst gekochter Hühnersuppe aus der Tiefkühltruhe und warte auf das malade Kind. Es kommt um 15 Uhr und sieht blass aus. Mit Taxis dauert das hier manchmal.

Um 15.30 Uhr liegt das Kind im Bett und der Hund kotzt ins Büro. Mein Chef ruft an und fragt, ob ich schon angefangen habe, es wäre eilig. Ich antworte, dass ich gerade Hundekotze wegwische, aber schon nachgedacht habe und morgen Rohentwürfe in die Agentur mitbringe. Irgendwie irgendwas.

Um 17.30 Uhr kommt L. vom Zahnarzt und sieht leidend aus. Ich tröste ihn, zeige ihm den ersten Logo-Entwurf, er findet ihn nicht schlecht, ich aber allerdings, und zwar ziemlich.

Um 18 Uhr springe ich ohne Umwege direkt aus dem Schreibtischstuhl in die Küche an den Herd und mache die Hühnersuppe heiß. Kind und L. löffeln mit großem Appetit, ich flitze wieder hoch an den PC und will später essen.

Um 21.30 Uhr bin ich zufrieden mit einem Entwurf. Von der Hühnersuppe ist nichts mehr da. Ich schmiere mir ein Käsebrot, räume die Küche auf, wasche ab, gehe Gassi und nicke um 23 Uhr auf dem Sofa vor dem Fernseher ein. L. weckt mich um Mitternacht, ich bleibe unbeeindruckt an Ort und Stelle liegen.

 

Tag 3. Mittwoch.

Um 6 Uhr stehen wir alle drei gleichzeitig auf und wollen alle drei gleichzeitig ins Badezimmer, um uns anschließend gleichzeitig in die circa vier Quadratmeter kleine Küche zu quetschen. Ich muss um 9 Uhr in Mönchengladbach in der Agentur sitzen. Denken Sie nun bitte nicht, drei Stunden seien genügend oder womöglich sogar viel Zeit, um ein Büro zu erreichen, das rund vierzig Kilometer entfernt ist.

Um 7 Uhr war ich mit dem Hund draußen, habe Unterlagen zusammengepackt, eine überreife Banane in mich hineingestopft, das Chaos in der Küche bestaunt und es durch geschickte Überholmanöver ins Bad geschafft. Mehrere Versuche, mein Geschäft so unauffällig wie möglich zu erledigen, scheitern aus Angst. Dazu müssen Sie wissen, dass das einzige Bad mit einziger Toilette nicht nur direkt neben der Küche liegt, sondern auch noch mit selbiger durch eine Tür verbunden ist. Das hemmt ungemein. Auch beim Kochen. Aber das ist ein anderes Thema.

Ich stehe erst mit einem Bein in der Hose, als L., bereits komplett mit Jacke und Schuhen bekleidet, anfängt zu drängeln. Er fährt mich samt Kind zum kilometerweit entfernten Bahnhof in einen anderen Ort namens Geilenkirchen-Lindern, um anschließend samt Kind wieder nach Heinsberg zurückzufahren. Auf halber Strecke kommt Qualm aus der Motorhaube. Das Kind klatscht in die Hände, weil es in der Schule was zu erzählen hat, wir sind alle sehr begeistert und kommen in allerletzter Sekunde am Bahnhof an. Der Motor kocht bei minus 9 Grad Celsius Außentemperatur. Ich hetze atemlos zum Regionalzug.

In Mönchengladbach steige ich in den Bus und stehe um 8.45 Uhr frierend vor der Agentur. Niemand da. Es regnet. Es drückt in den Eingeweiden. Ich müsste dringend mal, pupse ein bisschen und warte eine halbe Stunde lang. Mein Chef hat verschlafen und der Praktikant seinen freien Tag, weil ich ja heute da bin. Mein Chef guckt sich den Rohentwurf des Logos an, sagt kurz was dazu und ist auch schon wieder weg – Termine, Termine.

Ich flitze aufs Örtchen, beantworte Emails, sauge Staub, wasche ab, räume die Küche auf, schleppe zwei Säcke mit miefendem Müll raus und passe auf das Telefon auf. Arbeiten kann ich so gut wie nichts, weil sämtliche Original-Dateien noch auf meinem Rechner in Heinsberg sind. Wäre der Praktikant da, könnte ich wieder nach Hause fahren und dort arbeiten. Er ist aber nicht da, weil ich ja heute da bin, und ich kann keine Rufumleitung aktivieren, weil ich mein Handy vergessen habe und auch nicht zu Hause bin, und wenn ich nun wegfahren würde, wäre niemand da, der ans Telefon gehen könnte, und das wiederum könnte der Untergang der Firma sein. So spiele ich mit dem Agenturhund und warte bis 14 Uhr auf meinen Chef, der mir sagt, dass ich nicht länger bleiben muss.

Der nächste Zug zurück fährt in mehr als einer Stunde. Ich fahre mit dem Bus zum Bahnhof, stelle erstaunt fest, dass mein Magen knurrt, kaufe mir ein Bratwurstbrötchen und warte auf den Zug, der sich dreiundzwanzig Minuten verspätet. Da L. mich nicht vom Zielbahnhof in Sie-wissen-schon-wo abholen kann, weil er ja arbeitet, fahre ich eine halbe Stunde später mit dem Bus weiter und bin zeitgleich mit der Rest-Patchworkfamilie um 17 Uhr zu Hause.

Mir schwant, dass da etwas Grundsätzliches nicht optimal läuft, und beschließe, heute nicht mehr zu arbeiten. Dafür vielleicht am Wochenende. Samstag oder so.

 

Tag 4. Donnerstag.

Um 7 Uhr werde ich wach und friere, schwitze, niese und huste. „Du hast Fieber“, sagt L. „Hab ich nicht!“, krächze ich trotzig, während mir fieser Rotz aus der Nase tropft. „Bleib zu Hause“, sagt er. Ich räuspere mich. „Okay, bleib im Bett“, antwortet er. „Geht nicht“, sage ich, „das Logo, eilig, eilig.“ Er seufzt, küsst mich sanft auf die Wange und fährt zur Arbeit.

Um 9 Uhr schlurfe ich mit Kaffee an den PC und liege dreißig Minuten später mit dem Telefon wieder im Bett. Mein Chef ruft an. Rufumleitung. Ich piepse, dass ich krank bin. „Ich hör’s. Mist, das Logo, ich muss weg. Kannst du nicht …“ „Nicht vor heute Abend“, wimmere ich. „Okay, bessere dich“, sagt er. „Leck mich“, denke ich.

Um 11 Uhr weckt mich ein netter Stammkunde, weil er schon wieder nicht mehr weiß, wie und wo er seine temporären Internetdateien löschen kann. „Sie klingen ja schlimm, gehen Sie bloß nach Hause und legen Sie sich ins Bett!“, befiehlt er streng. „Gute Idee“, keuche ich ihn an. Er weiß nicht, wo er angerufen hat. Der Hund will wieder raus und muss ausnahmsweise mit dem Garten vorlieb nehmen.

Um 17 Uhr weckt mich L. „Wie geht es dir? Und wo ist dein Telefon?“, fragt er. Ich greife schweigend unter sein Kopfkissen. Vier Anrufe in Abwesenheit. Egal.

L. rührt für uns Rühreier. Um 19 Uhr krieche ich kraftlos ins Büro. Das Logo ist um 21.30 Uhr fertig, ich schlafe unterm Schreibtisch.

 

Tag 5. Freitag.

Liege im Sterben und taumele um 11.30 Uhr unter Aufbringung meiner letzten kümmerlichen Kräfte die Treppe hinunter. L. hat mich beim Chef krankgemeldet, steht auf dem Zettel am Kühlschrank. Ich finde das ein bisschen frech, verspüre trotzdem eine große Erleichterung und beschließe, ein heißes Bad zu nehmen und die Heizung höher aufzudrehen. Dieses Haus ist einfach immer kalt, aber heute ganz besonders.

Ich kippe meinen teuersten Badezusatz in die Wanne, drehe den Heißwasserhahn auf und durchwühle die Küche nach Erkältungstee. Keiner da. Brot ist auch alle. Mein Frühstück besteht aus Kamillentee und Erdbeerjoghurt. Manche haben noch nicht mal das.

Fünf Minuten später gucke ich nach dem Badewasser. Es ist lauwarm. Aus dem Hahn kommt nichts Heißes mehr. Die Heizung: kalt. Wasser aus der Dusche: auch kalt.

Schlotternd schleiche ich im Bademantel nach draußen zum Heizungsraum. Eine Nachbarin grüßt freundlich. Von den etwa zwanzig Lämpchen an der Heizung leuchten zwei signalrot. Dieses Gerät hasst mich, und ich hasse es zurück.

Ich könnte jetzt L. anrufen und fragen, was ich machen soll. Oder einen Monteur. Oder den Ölstand kontrollieren. Stattdessen stimme ich lautes Gejaule an. Der Hund jault aus Solidarität mit, die Wellensittiche brechen erst in Panik und dann aus dem Käfig aus und vor der Haustür bildet sich eine Menschentraube. Hinter mir geht die Hoftür auf. Sie kommen mich holen. Ganz bestimmt.

Die hintere Eingangstür öffnet sich. Es ist L., er hat hat früher Feierabend gemacht. Er hätte so ein komisches Gefühl gehabt, sagt er. „Buuuuhuhuuuuuuu, die Heizung!“ ist mein letzter Satz, bevor er mich die Treppe hochschiebt und ins Bett packt.

Um 20 Uhr rüttelt es an mir. „Jetzt ein Bad?“, fragt L. und stellt eine Tasse Hagebuttentee ans Bett.

Mein Lachen klingt etwas irre.

 

Tag 6. Samstag.

Wochenende! Juhu! Mir geht es besser. Das ist sehr schön, schließlich gibt es viel zu tun heute. Endlich Zeit zum … Putzen! Der Fußboden sieht aus, als wären mindestens fünf Bauarbeiter durchs Haus gewalzt und der Bügelwäscheberg hat inzwischen Zimmerdeckenhöhe erreicht.

Um 10 Uhr fahren wir zu dritt zum Familiengroßeinkauf und sind um 12.30 Uhr zurück, um den Inhalt eines kompletten Kombi-Kofferraums eine halbe Stunde lang im Keller, in der Tiefkühltruhe, im Kühlschrank und in diversen Schränken und Regalen zu verstauen. Mir geht es wieder schlechter.

Ich schleppe mich nach oben und rufe Emails ab. Großauftrag im Postfach. Der Logokunde braucht alles, was ein Kunde überhaupt brauchen kann. „Ich lege mich ein bisschen hin“, sage ich um 13 Uhr zu L., denn ans Putzen ist im Grunde ja überhaupt nicht zu denken, wenn wir zu dritt zu Hause sind. Außerdem geht es mir plötzlich noch schlechter. Ich stelle noch schnell die Waschmaschine an und schlafe, um am Nachmittag ausgeruht arbeiten zu wollen.

Um 14 Uhr werde ich von L. geweckt. „Was’n los?“, motze ich ihn an. „Wir müssen noch mal einkaufen“, antwortet er. „Die Waschmaschine hat gebrannt. Wir brauchen eine neue.“ Sagte er tatsächlich „gebrannt“? Oder „gequalmt“? Geschmort? Gekocht? Was auch immer es war – ich falle in Ohnmacht und wache im völlig überfüllten Media-Markt wieder auf.

Der Rest des Tages wurde von meiner Festplatte gelöscht.

 

Tag 7. Sonntag.

Um 6 Uhr stehe ich alleine auf und wische die komplette untere Etage. Um 8 Uhr sitze ich im Büro. L. macht um 10 Uhr Frühstück, danach arbeite ich entspannt weiter.

Liebster und Kind backen währenddessen Apfelkuchen und wollen später Kerzen gießen, schließlich ist Sonntag, da macht man solche Sachen.

Um 15 Uhr essen wir den Kuchen. Der ist wirklich lecker, die Küche weniger. Ich lobe den Kuchen und schweige aus Liebe über die Küche. Zum Kerzengießen habe ich keine Zeit, der Auftrag, der Auftrag. Die beiden machen das ohne mich.

Um 16.40 Uhr will ich mir einen Tee kochen und rutsche im Flur aus. „Ja, hier ist es so glatt, ist mir auch schon aufgefallen. Hast du mit was Neuem gewischt?“, wundert sich L. „Neee“, antworte ich, wundere mich auch und rutsche weiter.

Um 19 Uhr, nach dem Abendessen und vor dem Abwasch, fragt L., ob ich „ihm mal eben seine Haare schneiden kann“. Mit so einer Schermaschine wie für Hunde, nur halt für Männer. Ich zögere mangels praktischer Erfahrungen im Friseurhandwerk, er beruhigt mich und meint, es könne gar nichts passieren. Gedanklich noch oder schon wieder beim Auftrag, kreiere ich für L. ein völlig neues Styling – nennen wir es „Negativer Irokesenschnitt“. Hat nicht jeder. Will sicher niemand. L. nicht. Ich nicht. L. ist ein wenig verzweifelt und ich schäme mich sehr.

  

Tag 8. Montag.

Um 7.30 Uhr stehe ich in der rutschigen Küche und fege und schabe und kratze und putze und wische. Kerzenwachs. Es ist Kerzenwachs. Im ganzen Haus. Überall ist Kerzenwachs in kleinen Flocken. Ich staune aus tiefstem Herzen.

Um 8.30 Uhr will ich frühstücken. Da fällt mein Blick auf einen Zettel, der unschuldig auf dem Esstisch liegt und auf mich wartet. Er ist von L. „Achtung, im Hof ist eine kleine Maus!“, steht da. Eine Maus. Im Innenhof. Dessen Tür mitten in die Küche führt und umgekehrt. Wir leben auf dem Land, da sind Mäuse etwas Alltägliches. Ich habe nichts gegen Mäuse. Also rein grundsätzlich. Aber bitte, bitte, bitte nicht im Haus.

Mit einer Tupperdose bewaffnet schiebe ich mich durch einen winzig klein geöffneten Spalt nach draußen in die Kälte. Sie hat sich hinter der Altpapierkiste versteckt, die Maus.

Mäuse sind schnell, aber ich treibe sie erfolgreich in die Ecke, tuppere sie sachte ein, trage Dose samt Maus zum Maisfeld und wünsche dem verdutzten Tier einen angenehmen weiteren Wochenanfang.

Um 9 Uhr sitze ich mit leerem Magen im Büro. Mein Chef ist auch mal in seinem Büro, ich habe Ruhe bis 11 Uhr. Da ruft meine Freundin von nebenan an. Sie muss dringend und sofort irgendwohin und fragt, ob ich auf ihren Welpen aufpassen kann, eine Stunde lang oder so. „Okay“, seufze ich.

Fünfzehn Minuten später ist mein Büro ein Truppenübungsplatz. Mein Hund und der Welpe kloppen sich um das Hundesofa. Ich setze den Welpen in sein Körbchen, wo er nicht bleibt, weil er lieber am Netzkabel nagt.

Ich nehme ihn auf den Schoß, was die Arbeit kompliziert gestaltet. Mein Chef ruft an. „Alles klar?“, fragt er. „Jaja, läuft prima“, antworte ich. Meine Hose wird nass. Da, wo der Welpe sitzt. Ich mache das Fenster weit auf und schleudere ihn auf die Straße.

„Chef, wir müssen reden“, sage ich.

 

Tag 36. Wieder Montag.

An meiner Bürotür hängt seit drei Wochen ein Schild mit Öffnungszeiten. Mein Chef hat der Arbeitszeitverkürzung von vierzig auf fünfunddreißig Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich zugestimmt. Mein Liebster und seine Tochter gießen keine Kerzen mehr. Das männliche Haupthaar ist inzwischen nachgewachsen, dem Welpen geht es wieder gut und mir allerbestens.

Mein Psychiater sagt, es sei alles nur eine Frage der richtigen Organisation. Ich arbeite jetzt nachts.

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